Alberto Manguel
Ein geträumtes Leben
Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel
Kampa-Verlag, Zürich 2021. 192 Seiten, 22 Euro

Über das Buch

Man hat ihn »König der Leser« genannt, »Don Juan der Bibliotheken«, »Monsieur Lecture«. Mit vier Jahren »entdeckte« Alberto Manguel, dass er lesen konnte, als Sechzehnjähriger war er Vorleser des erblindenden Dichters Jorge Luis Borges, von 2016 bis 2018 Direktor der argentinischen Nationalbibliothek.

Mit seinem Bestseller Geschichte des Lesens, in 35 Sprachen erschienen, wurde er weltberühmt. Als Sieglinde Geisel ihn fragt, wer er sei, antwortet Manguel: »Ich bin ein Leser.« Abgesehen davon sei seine Identität fluide: als gebürtiger Argentinier, der unter anderem in Israel, Tahiti und New York gelebt hat und heute die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt; als dreifacher Vater, der sich eines Tages in einen Mann verliebte; als Jude, aufgezogen von einer deutsch-tschechischen Nanny, die ihm die deutsche Kultur und Literatur nahebrachte.

Wie in seinen Büchern schöpft Manguel auch im Gespräch auf charmante und inspirierende Weise aus seinem unermesslichen Wissen, erzählt vom Umzug seiner rund 40 000 Bände umfassenden Privatbibliothek, von seinem Schlaganfall, nach dem er wieder neu sprechen lernen musste, von seiner Liebe zu Dante und seinem Hobby, dem Puppenmachen. Und er verrät, wie es dazu kam, dass jedes seiner Kinder während der Frankfurter Buchmesse geboren wurde.

Vorwort von Sieglinde Geisel

»Alberto Manguel? Das ist doch der Autor, der ausschließlich Bücher über Bücher schreibt«, sagt der Buchhändler des Saint George Bookshop im Prenzlauer Berg, als ich Bücher von Alberto Manguel bestelle. Seit seinem Buch Eine Geschichte des Lesens war mir Alberto Manguel ein Begriff. Ich hatte es sofort gelesen, als es 1996 erschien, und mir war, als hätte ich auf ein solches Buch über das Lesen gewartet. Ich war nicht die Einzige: Eine Geschichte des Lesens machte den aus Argentinien stammenden Kanadier und Weltbürger Alberto Manguel über Nacht berühmt, das Buch wurde ein Bestseller und erschien in 35 Sprachen.

Alberto Manguel ist vielleicht der »produktivste« Leser der Welt: Seit er 1981 mit Gianni Guadalupi The Dictionary of Imaginary Places herausgab – ein Reiseführer der Phantastischen Literatur –, hat er Dutzende von Anthologien zusammengestellt; dazu kommen noch einmal so viele Bücher über die Literatur und das Lesen sowie fünf Romane. Viele seiner Bücher erzählen von der Begegnung mit Büchern, sei es sein Buch über den Verlust seiner Bibliothek (Packing My Library, 2018), über Dantes Göttliche Komödie (Curiosity, 2015) oder über die Metaphern des Lesens (The Traveler, the Tower, and the Worm: the Reader as Metaphor, 2013).

Mit der oft theorielastigen literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur haben Alberto Manguels Bücher nichts gemein, vielmehr sind sie ein fortgesetztes Gespräch mit Büchern, oft über Jahrzehnte hinweg. Von 2016 bis 2017 war Alberto Manguel Direktor der Argentinischen Nationalbibliothek – ein Posten, den Jahrzehnte zuvor Jorge Luis Borges innehatte, zu dessen Vorlesern Manguel in den 1960er Jahren gehörte.

Ursprünglich hätte ich Alberto Manguel für die Gespräche zu diesem Band im Mai 2020 in Zürich treffen sollen, doch die Coronapandemie machte alle Reisepläne zunichte, und so führten wir die Gespräche ab April über den Bildschirm. Alberto saß um 9 Uhr in New York an seinem Schreibtisch, ich um 15 Uhr in Berlin. Während der Entstehung dieses Gesprächsbands zog Alberto zwei Mal um: New York wurde für ihn zu gefährlich, denn aufgrund seiner Vorerkrankungen wäre ein Krankenhausbesuch zu riskant gewesen. Im Sommer zogen er und sein Partner Craig Stephenson nach Montreal, im September nach Lissabon. Der Bürgermeister von Lissabon bietet Alberto Manguels legendärer Bibliothek eine neue Heimat: Die 40 000 Bände waren seit 2015 in Montreal eingelagert, nun ziehen sie ein in einen Palast in der Altstadt, dort bilden sie das Herzstück eines »Center for the Study of the History of Reading«.

Wären unsere Gespräche anders verlaufen, wenn wir am gleichen Tisch gesessen hätten? »Virtuelle Präsenz ist nicht gleichzusetzen nicht mit physischer Präsenz«, sagt Alberto Manguel. »Das erkennt Dante in der Göttlichen Komödie, als er versucht, die Seelen zu umarmen.« Wir sind uns noch nie physisch begegnet, und doch hat sich in unserer Gesprächsroutine am Bildschirm eine überraschende Vertrautheit eingestellt.

Niemand kann wissen, ob ich andere Fragen gestellt und Alberto andere Antworten gegeben hätte, wenn wir uns physisch gegenübergesessen hätten. In einer Sache bin ich mir sicher: Durch die erzwungene Entschleunigung hatten wir mehr Zeit und Ruhe für unseren Austausch, als es uns in einer notdürftig erzwungenen Pause zwischen der Hektik des Herumreisens möglich gewesen wäre.