«Man kann mit Worten alles sagen. Wenn man kann.»

Redigieren

Redigieren heißt: einen fremden Text umschreiben. Dabei geht es nicht nur um Verständlichkeit und Klarheit, sondern auch um stilistische Eleganz.

Schreiben heißt umschreiben

Schreiben heißt umschreiben, sagt Stephen King in seinem Schreibratgeber Das Leben und das Schreiben. Redigieren ist in gewissem Sinn umschreiben, allerdings übernimmt beim Redigieren ein Redakteur oder eine Redakteurin die Aufgabe des Umschreibens.

Das ist provokant formuliert: In der Regel würde man beim Redigieren nicht von Umschreiben sprechen. Ist Redigieren überhaupt nötig? Je nach dem, könnte man sagen. Je mehr der Autor selbst bereits umgeschrieben hat, je reifer ein Text also ist, desto weniger muss von fremder Hand redigiert werden. Am einen Ende des Spektrums sind Texte, die bei denen das Redigieren dem Aufräumen gleicht: Das ist der Fall, wenn Themen durcheinander gehen, die Argumentation lückenhaft ist und überflüssige Worte den Lesefluss behindern. Am anderen Ende des Spektrums hat man es mit geschliffenen Texten zu tun, bei denen es nichts zu verbessern gibt. Doch auch dann gilt: Vier Augen sehen mehr als zwei, und auch geübte Autoren sind für manche Schwächen blind. Ich selbst lasse alle wichtigen Texte von Gewährsleuten gegenlesen, bei denen ich nicht mit Schonung rechnen muss. Ich halte es mit Stephen King: Er gibt alle seine Texte seiner Frau Tabby zu lesen, bevor er sie aus der Hand gibt. Es sei besser, wenn einem jemand sage, dass der Hosenstall offen stehe, bevor man das Haus verlasse.

Einen Text in Ordnung bringen

Das Wort redigieren stammt aus dem Lateinischen: Es besteht aus den Wortteilen „re“ (zurück“ und „agere“ (treiben, bewegen). Redigieren bedeutet „in Ordnung bringen“. Das wichtigste Ziel des Redigierens ist Verständlichkeit und Klarheit. Hat man sich als Autorin in einen komplexen Sachverhalt eingearbeitet hat, kann man sich beim Schreiben oft nicht mehr vorstellen, was man alles erklären muss, damit jemand den Text versteht, der mit der Materie nicht vertraut ist.

Der Autor müsse „stets eingedenk“ sein, schreibt Arthur Schopenhauer in seinem Essay Über Schriftstellerei und Stil,

daß die Gedanken insofern das Gesetz der Schwere befolgen, als sie den Weg vom Kopfe auf das Papier viel leichter, als den vom Papier zum Kopfe zurücklegen, daher ihnen hiebei mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln geholfen werden muß.

Beim Redigieren geht es nicht nur um den Transport von Inhalt aus dem Kopf des Autors in den Kopf der Leserin, sondern auch um Eleganz und Rhythmus, also um Stil. Gerade das Redigieren ästhetisch anspruchsvoller Texte ist oft eine Gratwanderung: Die Redakteurin muss die Balance halten zwischen ihrem eigenen Stil und dem des Autors. Das erfordert Einfühlungsvermögen: Eine gute Redakteurin redigiert den Text nicht so, wie sie selbst es gern sagen würde, sie muss den Stil des Autors beibehalten. Fehlt dieses Fingerspitzengefühl, geht der Ton verloren und der Autor erkennt sich selbst in seinem Text nicht wieder, auch wenn sich durch das Redigieren inhaltlich nichts geändert hat. Bei der stilistischen Verlässlichkeit des Redigierens geht es um die Wortwahl: Jeder Mensch hat bevorzugten Wörter, und für jeden gibt es wiederum Wörter, die er nie verwenden würde, weil sie nicht zu seinem Stil passen. Doch auch die Syntax ist Ausdruck eines persönlichen Stils: Die Satzstrukturen bestimmen die Dynamik eines Texts, und so wie jeder Mensch sich körperlich anders bewegt, sind auch die Bewegungen der Sprache bei jedem Autor anders.

Der Redakteur bestimmt den Titel

Beim Redigieren im Medienalltag geht es allerdings nicht nur um die innere Gestalt des Texts, sondern auch um seine äußere Form. Der Redakteur ist für Titel, Lead (Teaser) sowie Zwischentitel verantwortlich, oft gibt es dabei hausinterne Regeln zu beachten, und für die Online-Ausgabe der Zeitung muss noch einmal anders getitelt werden als im Print. Denn  während man in der gedruckten Zeitung beim Blättern weiß, in welchem Ressort man sich befindet, begegnet man einem Artikel im Internet ohne diesen Kontext, etwa wenn man via Facebook oder Twitter auf den Artikel gestoßen ist. Im Internet müssen Spitzmarke, Titel und Untertitel dem Leser sofort klar machen, worum es geht.

Manchmal sind Autoren irritiert, wenn sie erfahren, dass sie den Titel ihres Artikels nicht selbst bestimmen dürfen. Doch gerade im klassischen Zeitungsgeschäft ist es sinnvoll, dass diese Dinge Aufgabe der Redaktion sind: Je nach dem etwa, in wie vielen Spalten ein Artikel umbrochen wird, variiert die Länge des Titels. Die Position der Zwischentitel ist von der Anordnung des Texts auf der Zeitungsseite abhängig: Zwischentitel rhythmisieren einen Text auch optisch, und natürlich darf ein Zwischentitel nicht am unteren Ende einer Spalte stehen.

Freie Journalisten sind ihren Redakteuren ein Stück weit ausgeliefert, und es kann beim Redigieren durchaus zu Konfliken kommen. Im Tagesjournalismus ist es angesichts des Zeitdrucks meistens nicht möglich, über Eingriffe in den Text Rücksprache zu halten. Anders ist es bei Publikationen, die über längere Zeiträume hinweg geplant werden. Handschriftlich kommentierte Manuskripte sind ein Ding der Vergangenheit, heute benutzt man dazu die Korrektur- und Kommentarfunktionen von Word. Man sieht die farbig markierten Änderungen sofort. Der Vorteil: Da man die Gedanken des Redakteurs nachvollziehen kann, ist das Redigiertwerden im besten Fall auch ein Schreibtraining. Der Nachteil: Alle Korrekturen leuchten gleich rot, ob es sich nun um Petitessen handelt oder um größere Baustellen.

Redigieren im Dialog

Eine besondere Art des Redigierens hat sich im Online-Magazin tell entwickelt, das seit März 2016 online ist. tell ist nicht als Blog konzipiert, sondern als Magazin, und was ein Magazin von einem Blog unterscheidet, ist das Redigieren. In der Praxis hat sich ein dialogisches Redigieren ergeben: Die Anregungen und Änderungsvorschläge geben dem Text oft eine neue Richtung, und es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Text mehrmals wie ein Ping Pong zwischen Autorin und Redakteur hin und hergeht, bis er eine Form erreicht hat, mit dem alle zufrieden sind.

Schreiben ist ein Prozess: Man kann diesen Prozess im stillen Kämmerlein für sich allein vorantreiben, oder man kann es im Austausch mit anderen tun, man kann Schreibrituale entwickeln oder schreiben, wann und wie’s kommt. Das dialogische Redigieren ist mehr ein Weiterschreiben als ein bloßes Umschreiben. Oft erreicht die Autorin mit dieser Methode ein anderes Ergebnis, als wenn sie allein für den Text verantwortlich gewesen wäre. Gemessen daran, wie viele Arbeitsstunden verschiedener Köpfe am Ende in einem Text stecken, ist diese Methode ineffizient. Gemessen am Ergebnis und an dem, was jeder dabei lernt, ist das dialogische Redigieren jedoch die Zeit wert, die dafür aufgewendet wird. Beim Schreiben geht es nicht nur um die Produktion eines Texts, sondern auch um das Wachstum der Schreibenden.

An der Grenze zum Lektorat

Bei dem dialogischen Redigieren wird nicht nur etwas in Ordnung gebracht, es geht nicht nur darum, Fremdwörter zu ersetzen, Schachtelsätze zu entwirren, Argumentationen zu straffen. Es ist ein kreatives Redigieren, das nicht nur ordnet, sondern Neues schafft. Damit bewegen wir uns an der Grenze zum Lektorat, wie es in der Literatur üblich ist. Diese Grenze ist nicht absolut, denn die Regeln des guten Redigierens gelten auch fürs Lektorat. Es ist eher so, dass das Lektorieren über das Redigieren hinaus geht. Ein Text ist dann literarisch, wenn er seinen eigenen Gesetzen folgt, und ein Lektor muss diesen Weg mitgehen, auch und gerade wenn eine Autorin ästhetisches Neuland betritt.

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